Staatsbildungskrieg vor Ort? Lokalverwaltung und Krisenbewältigung im Dreißigjährigen Krieg

Staatsbildungskrieg vor Ort? Lokalverwaltung und Krisenbewältigung im Dreißigjährigen Krieg

Organisatoren
Birgit Emich / Johannes Kraus, DFG-Projekt „Der Staatsbildungskrieg vor Ort. Der Dreißigjährige Krieg in der Oberpfalz“, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Erlangen
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.01.2017 -
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Von
Carolin Pecho, Historisches Institut, Universität Paderborn

In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren mehrere Kriegsheere gleichzeitig im Reich unterwegs. Wie reagierten lokale Amtsträger auf diese Herausforderung? Sie mussten sowohl ihren Vorgesetzten als auch den jeweiligen Untertanen Rechnung tragen und dabei mit mehr oder minder unvorhersehbaren Widrigkeiten umgehen. Führte dieses Handeln zu einer Verdichtung der Strukturen und trug die lokale Ebene damit zur Staatsbildung bei? War der Dreißigjährige Krieg damit ein „innerer Staatsbildungskrieg“1? Der Krieg wird als Herausforderung der bestehenden Herrschaft gesehen, in der „empowering interactions“2 verdichtete Strukturen von unten herausbilden.

Unter dieser Frage stand der Workshop des DFG-Projekts „Der Staatsbildungskrieg vor Ort. Der Dreißigjährige Krieg in der Oberpfalz“ von Birgit Emich (Goethe-Universität Frankfurt am Main) und Johannes Kraus (ebd.) den sie in Kooperation mit Felix Henze (Humboldt-Universität zu Berlin) am 27. Januar 2017 an der Universität Erlangen veranstalteten. Die Kommentatoren Ronald Asch, Horst Carl, Birgit Emich, Frank Kleinehagenbrock und Wolfgang Reinhard diskutierten den Beitrag und zogen Verbindungslinien zwischen den unterschiedlichen Themen. Axel Gotthard war aus Krankheitsgründen verhindert, er hatte die Exposés der Teilnehmer schriftlich kommentiert.

Als erster der Teilnehmer referierte JOHANNES KRAUS (Erlangen) zum Thema „Der Krieg als administrative Herausforderung am Beispiel von Neumarkt in der Oberpfalz“ und fragte danach, wie der lokale Staat sich wandelte. Am Beispiel der Supplikation eines Untertanen gegen den Kastner, der Söldner im Hof des Klagenden einquartiert hatte, zeigte Kraus, dass das administrative System auch in extremen Belastungssituationen nicht zusammenbrach, sondern weiter als funktionierendes Instrument wahrgenommen wurde. Obwohl die Oberpfalz im Dreißigjährigen Krieg mehrfach die Herrschaft wechselte, ist eine Beständigkeit im Aufkommen und in der Art von administrativem Schriftgut festzustellen. Kraus konstatierte, dass es mehr Kontinuität und Stabilität gab als Krise und Veränderung. Daraus folgerte er mithilfe Bourdieus Theorie der symbolischen Ordnung, dass gerade diese in der Oberpfalz intakt blieb. Kraus erklärte das mit der Beharrlichkeit des Habitus nach Bourdieu und der Verfügbarkeit des militärischen Personals.

Auf Nachfrage stieß zunächst die theoretische Fundierung des Vorgestellten und das Plenum fragte nach dem Zugewinn der Einbindung des theoretischen Konzepts von Bourdieu. Greife hier nicht das Diktum: „Es muss sich alles ändern, um gleich zu bleiben“? Kraus argumentierte, der Mehrwert vor allem des Habitusbegriffs liege darin, die Beharrlichkeit der Strukturen, trotz der äußeren Faktoren, sichtbar machen zu können. Außerdem wurde die Akteursebene in der Diskussion intensiv beleuchtet. Jede Administration hatte eigene Beamte installiert. Über Kirchenbücher ist die rasche Integration dieser neuen Eliten in die untersuchte Gemeinde nachweisbar. Zum Abschluss der Diskussion wurde die besondere konfessionelle Situation in der Oberpfalz als „Sonderfall“ diskutiert und der Vorschlag gemacht, den Befund der Stabilität mit den Jahren vor und nach dem Krieg abzugleichen, da das Projekt von Kraus bis 1670 angelegt ist. Ein großer Teil der Arbeit wird sich in Zukunft den konfessionellen Verschiebungen vor Ort widmen.

FELIX HENZE (Berlin) analysierte in seinem Vortrag, den er mit „‚Business as usual?‘ Kriegserfahrung und Verwaltungshandeln schwarzburgischer Amtsträger“ überschrieben hatte, die nachträglich verfasste Lebensbeschreibung von Volkmar Happe, einem langjährigen Amtmann, der während des Dreißigjährigen Kriegs in Schwarzburg-Sondershausen (Unterherrschaft) für die Einquartierung der Söldner ebenso wie für diplomatische Reisen zuständig war. Im Stile einer Leichenpredigt reflektierte Happe über sein Leben und vor allem über die Glücksfälle, die ihn trotz Anfeindungen in seiner Stellung gehalten hatten. Dass dies notwendig war, zeigt die Unsicherheit und Krise an, aber dennoch, darauf verwies Henze schon im Titel seines Beitrags, sind die administrativen Angelegenheiten, um die Happe sich kümmerte, „business as usual“. Gab es also keine Krise? Soweit ging Henze nicht, er analysierte den Text weniger als Selbstzeugnis, denn als Versuch Erfolge sichtbar und haltbar zu machen. Zusätzlich zu dieser textimmanenten Analyse zeigte Henze auch die Verstrickung des Amtmanns in die lokale Elite auf. Dafür hatte er sich über Verwaltungsquellen einen Überblick über die Verhältnisse in den schwarzburgischen Herrschaften verschafft. Die Datenbank fasst über 1.000 Einträge. So kann Henze die Handlungsradien der Personen und ihre Wirkungskreise analysieren.

Gerade bei letzterem Punkt setzte die Diskussion der Kommentatoren an. Zu sehr schien das Vorhaben in zwei Hälften zu zerfallen. Henze argumentierte, dass gerade die prosopographische Einordnung ermögliche. So liefert Henze eben keine literaturwissenschaftliche Quellenarbeit, sondern die Entwicklung von Staatsbildung vor Ort wird in den Reflexionen eines Amtmanns deutlich. Henze kann auf Basis der Daten außerdem Aussagen über die Verweildauer der Amtmänner vor Ort machen und so die Karrieren seiner Untersuchungsobjekte einordnen. Die Krise wird im Text marginalisiert, weil sie einer erfolgreichen Karriere entgegenstände. Das Plenum hob den Befund hervor, dass Krieg ganz oft Alltag sei. Die Ordnung des Amtsträgers und auch die Organisation der Krise könnten, so das Plenum, auch der Habitualisierung des Kriegs geschuldet sein. Die Dichotomie Krieg/Frieden wirke hier nicht, vielmehr erlebten die Menschen Krieg als Alltag und waren daher um die Ordnung selbst bemüht.

OLEG RUSAKOVSKIY (Moskau) beschäftigte sich in seinem Beitrag mit der ländlichen Gesellschaft zwischen Krise und Anpassung. Seine Analyse stellte die Städte Besigheim und Bietigheim in den Vordergrund. Während des Dreißigjährigen Krieges waren die Städte mehrfach besetzt und mussten hohe Kontributionen zahlen. Die Obervögte mussten dies zusammen mit einer Elite dem regierenden Herzog von Württemberg gegenüber verantworten. Der Adel fehlte im Land. Die Städte waren auf den Handel sowie Getreide- und Weinanbau angewiesen. Ruskavoskiy legte den Fokus der Analyse dann auf die Situation der Beamten und die Lösungsmöglichkeiten, die diese Elite für die anstehende Situation fand. Die Bevölkerungskrise, einhergehend mit dem Problem, die finanziellen Ansprüche der übergeordneten Stelle zu erfüllen, lösten beide bereits in den 1640er-Jahren, indem sie versuchten Söldner als Einwohner zu werben. Es wurde deutlich, dass die Ansiedlungspolitik dazu beitrug, die vor der Krise existierenden politischen Strukturen auch nach dem Krieg stabil zu halten.

Die Zuzugspolitik der beiden Städte wurde in der Diskussion aufgegriffen. Ruskavosky ergänzte, dass viele der Zugezogenen aus den angrenzenden Territorien gekommen seien. In der Zusammenschau der drei Vorträge diskutierte die Runde nun, ob es sich wirklich um Staatsbildung gehandelt habe oder ob es nicht eher um lokale Ordnungspolitik im Krieg gehe. Das Plenum versuchte den zu beobachtenden Prozess weiter als Wachstum an Staatsgewalt zu umreißen. Gerade während Besatzungen gab es mehr Spielraum für die lokalen Behörden, da noch kein übergeordneter Zugriff auf das Geschehen vor Ort etabliert war. Eine auffällige Gemeinsamkeit der vorgestellten Projekte war, dass die 1640er-Jahre offensichtlich bereits Teil der Aufbauphase waren, die alte Ordnung schien sich zu diesem Zeitpunkt wiederzubeleben.

MARKUS STIEBING (Jena) analysierte in seinem Beitrag „Politikberatung und Fürstenregiment. Die Universität Jena und die Weimarer Herzöge im Dreißigjährigen Krieg“ Gutachten im Erbstreit zwischen den Weimarer und den Dresdner Herzögen. Die Linie in Dresden hatte die Kurwürde zugesprochen bekommen, umstritten war nun jedoch, nach welchen Erbrichtlinien die Vormundschaften für Kinder der anderen Linien geregelt werden sollten. Stiebing nahm die Professoren der Jenaer Universität in den Blick und zeigte anhand ihrer Gutachten auf, wie sie zum einen zu Beratern, zum andere aber auch zu lokalen Experten und prägenden Einflussnehmern auf die Position ihres Landesherrn wurden. Im Zentrum des Vortrags stand dabei der Gelehrte Friedrich Hortleder. Welche reichsweiten Konsequenzen ein Erbrechtsstreit haben konnte, zeigte Stiebing, als er darauf hinwies, dass ähnliche Argumente auch in der Frage des neuen böhmischen Königs diskutiert wurden.

Um die Person Hortleders kreisten die ersten Fragen in der Diskussion. Stiebing charakterisiert den Akademiker als ernestinischen Hardliner, der jedoch im Falle des besprochenen Gutachtens auf Aufforderung aus Weimar reagierte. So festigte der Professor die Schnittstelle zwischen Politik und Universität. Auf Nachfrage, inwieweit der Übergang der Kurwürde zur Dresdner Linie eine Rolle für die Positionsfindung der Weimarer Herzöge gespielt haben könnte, führte Stiebing aus, dass das Projekt „Zurückholen der Kur“ zwar eine Unterstellung sei, die jedoch keinen expliziten Niederschlag in den Akten gefunden hätte. Stiebing betonte es sei nachweisbar, dass Hortleder sich auf Vorlesungen stützte, die zunehmend das Reichsrecht zum Inhalt hatten und damit auch den Blickwinkel der zukünftigen Beamtenschaft sowie des Herzogs prägte. Das Plenum konstatierte, dass ein weiterer Punkt in der Diskussion um das Thema des Workshops berührt sei: Es gehe zum einen eher um Dynastiegeschichte als um Staatsbildung, jedoch könne hier zum andern untersucht werden, wie Argumente, wie Erbrechtsfragen, sofort zu Fragen der Durchdringung der Position und der Staatsbildung werden könnten.

STEFANIE FABIAN (Magdeburg) setzte den Fokus auf den Alltag des Dreißigjährigen Krieges. Daher stand nun, anders als in ihrem größeren Projekt, weniger der Vergleich zwischen dem Dreißigjährigen und dem Siebenjährigen Krieg im Vordergrund als die Bewältigung von Aufgaben während der 1630er-Jahren an Mittelelbe, unterer Saale und im Harz. Fabian analysierte, wie die Amtsmänner deeskalierend eingesetzt wurden. Sowohl die Residenzpflicht als auch die Aufforderungen von den vorgeordneten Stellen, im Falle eines Söldnerdurchzugs den direkten Kontakt mit den Anführern des Heeres zu suchen und das Geschehen zu sortieren und zu moderieren, fungierten prägend für die Modifikation der Rolle. Eine fortschreitende Staatsbildung konstatierte Fabian bei der weitgehend funktionierenden Bürokratie, dem routinierteren Umgang mit Söldnern, aber auch der Professionalisierung des Aushebens der Söldner. Im Vergleich zum Siebenjährigen Krieg konstatierte Fabian, dass die gezügelte Bellona eine Idealvorstellung sei. Allerdings habe die Erfahrung des Dreißigjährigen Kriegs zu einem Bewusstsein geführt, dass die Zivilbevölkerung vor dem Kriegsgeschehen zu schützen sei. Gefragt nach ihrem Gewaltbegriff erläuterte Fabian, dass die Quellen unterschiedliche Arten von Gewalt präsentierten. Es gebe zwar topische Ausdrücke wie „Schändung des Weibsvolks“, andererseits seien nur vereinzelt Straftaten überliefert worden. Fabian bemerkte, dass zunehmend, auch das wertet sie als Zeichen der Bürokratisierung, spezifischer bei den Söldnerheeren nachgefragt werde, aus welchen Kontingenten sie sich zusammensetzen würden.

Nach diesen Beiträgen, bedankte sich Emich für die Vorträge und die rege Diskussion und führte die Ergebnisse kurz zusammen. Staatsbildung vor Ort kann als Verdichtung von Herrschaft beschrieben werden. Hier kommt es auf eine Definition von Staatsbildung an. Da deutlich wurde, dass das Konzept in den Quellen erst einmal schwierig fassbar ist, verwies Emich auf den Begriff der Ordnung. Rekurrierend auf die bestehende Ordnung, entstand eben keine neue, sondern es zeigte sich jeweils ein beharrliches am Leben Erhalten und Anpassen der alten Strukturen. Das fasst das gemeinsame Problem der Beiträge zusammen: Sie fragten nach Veränderung und stießen auf Stabilität. Emich überlegte, ob zur Reflektion dieser Tatsache noch stärker die „Rolle“ der Amtsträger in den Fokus genommen werden sollte. Deutlich war in den Beiträgen geworden, dass der Krieg den Alltag vor Ort sowohl in ökonomischer, sozialer als auch konfessioneller Weise störte. Deutlich sei auch die Vielfalt an Quellen geworden, die uns Auskunft über lokale Ordnungspolitik geben können. Fragen nach der Genderverfasstheit des Strebens nach Ordnung oder auch der Verantwortung, die die Militärs hierfür übernahmen oder eben nicht, stellen weitere Aspekte dar, die in Zukunft Beiträge zu dieser Frage liefern könnten. Zur Begriffsschärfung wurde nun nochmals auf den Begriff des „statebuilding“ in der Kolonialismusforschung verwiesen, der sich signifikant von dem der Staatsbildung im frühneuzeitlichen Kontext unterscheide. Längere Perspektiven und der Blick auf größere territoriale Komplexe können in Zukunft weitere Ergebnisse zeitigen.

Der Befund der Stabilität sollte ernst genommen werden, es ist zu überlegen, ob der Blick auf „größere“ Territorien das Bild verschieben würde, dennoch zeigte der Workshop eindrücklich, wie gewinnbringend das in den Blick nehmen von Verwaltungsquellen, Kirchenbüchern und Supplikationen sein kann. Die Ergebnisse der Dissertationen der Teilnehmer werden der Forschungsdiskussion Auftrieb geben.

Konferenzübersicht:

Birgit Emich (Goethe-Universität Frankfurt am Main): Begrüßung

Johannes Kraus (Goethe-Universität Frankfurt am Main): Umkämpfte Ordnung. Der Krieg als administrative Herausforderung in der Oberpfalz

Felix Henze (Humboldt-Universität zu Berlin): „Business as usual“? Kriegserfahrung und Verwaltungshandeln schwarzburgischer Amtsträger

Oleg Rusakovskiy / Dmitri Pozharsky (Universität Moskau): Ländliche Gesellschaft zwischen Krise und Anpassung. Die altwürttembergischen Ämter Besigheim und Bietigheim im Dreißigjährigen Krieg

Marcus Stiebing (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Politikberatung und innere Staatsbildung in Sachsen-Weimar: Problemfelder und Lösungsversuche am Beginn des Dreißigjährigen Krieges

Stefanie Fabian (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg): Leben im Krieg. Begegnungen mit der ‚entfesselten’ und ‚gezähmten’ Bellona (1618-1763)

Bilanz und Abschlussrunde

Kommentatoren: Ronald G. Asch (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) / Horst Carl (Justus-Liebig-Universität Gießen) / Axel Gotthard (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) / Frank Kleinehagenbrock Kommission für Zeitgeschichte e.V., Forschungsstelle Bonn / Wolfgang Reinhard (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Anmerkungen:
1 Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg als moderner Staatsbildungskrieg, In: GWU 45/8 (1994), S. 487-499.
2 Wim Blockmans / André Holenstein / Jon Mathieu (Hrsg.), Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300-1900. Ashgate 2009.

Anmerkung der Redaktion

Folgender Satz wurde nach Erscheinung der Redaktion geändert von "Stiebing betonte es sei nachweisbar, dass die Vorlesungen Hortleders zunehmend reichsrechtliche Inhalte hatten und damit auch den Blickwinkel der zukünftigen Beamtenschaft prägten."

zu

"Stiebing betonte es sei nachweisbar, dass Hortleder sich auf Vorlesungen stützte, die zunehmend das Reichsrecht zum Inhalt hatten und damit auch den Blickwinkel der zukünftigen Beamtenschaft sowie des Herzogs prägte."


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